Chancenwerk
Kinder mit LRS stärken

LeseAdler und SchreibFüchse

Die Initiative „LeseAdler und SchreibFüchse“ hilft Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und beflügelt Talente. Im Interview erzählt Projektleiterin Songül Kavut von Chancenwerk e.V., wie genau das funktioniert.

Die LeseAdler und SchreibFüchse fördern Kinder mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben (LRS) nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Als Pilotprojekt vor zwei Jahren gestartet, wird das Engagement nun weiter ausgebaut. Zeit für ein Zwischenfazit. Was sind Ihre Erfahrungen? Was sind die nächsten Pläne? Und: Was hat Sie am meisten bewegt? Das fragen wir Songül Kavut, Mitglied der Geschäftsleitung von Chancenwerk und Projektleitung der Initiative.

Frau Kavut, seit zwei Jahren gibt es die LeseAdler und SchreibFüchse. Wie fällt Ihr Zwischenresümee aus?

Die Initiative ist mittlerweile an Duisburger Schulen sehr gut etabliert. In der Pilotphase starteten wir zunächst mit zwei, heute sind es vier Schulen, an denen wir aktiv sind. Damit erreichen wir knapp 100 Kinder. Was auch ein Beleg dafür ist, dass das Konzept gut angenommen wird.

Wie lautet dieses Konzept?

Unser Ansatz ist, für Kinder mit LRS die Kräfte zu bündeln. Die Ruhr-Universität Bochum und das dortige Germanistische Institut deckt die wissenschaftliche Seite ab. Die teilnehmenden Schulen eröffnen uns den direkten Zugang zu den Kindern – auch vor dem Hintergrund der Früherkennung. Wir als Chancenwerk bringen unsere Erfahrung als sozialer Bildungsakteur ein und übernehmen die koordinierende Rolle.
Gemeinsam überführen wir aktuelle LRS-Erkenntnisse in die Praxis, damit betroffene Schülerinnen und Schüler vom neusten Stand der Forschung und Wissenschaft profitieren. Methodisch, aber auch psychologisch.

Weil die Psychologie eine entscheidende Rolle spielt?

Ja natürlich! Viele Kinder mit LRS fühlen sich stigmatisiert. Da spielen Scham oder ein mangelndes Selbstwertgefühl eine große Rolle. Wen wundert’s? Immer noch halten sich hartnäckige Vorurteile. Etwa, dass Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten per se ein Intelligenzproblem seien, was ja mitnichten der Fall ist. Es gibt Inhaber von Lehrstühlen, sogar Nobelpreisträger, die LRS haben oder hatten.
Der Punkt ist: Bei einer frühzeitigen Diagnose besteht die reelle Chance, gefährdete Kinder zu durchschnittlich guten Lesenden und Schreibenden zu machen. Deshalb setzen wir genau hier an – bei der frühen Förderung.

Mich beeindruckt der Eifer der Kinder.

Songül Kavut

Wie diagnostizieren Sie LRS?

Das tun natürlich nicht wir als Chancenwerk. Im Zentrum steht die sogenannte Münsteraner Rechtschreibanalyse, kurz: MRA. Dabei handelt es sich um ein altersgerechtes Lückendiktat, das an den Schulen durchgeführt wird. Ihm liegen über 230 Fehlerkategorien zugrunde, die eine sowohl quantitative als auch qualitative Lese- und Rechtschreibanalyse erlauben. Am Ende steht die präzise Ermittlung des Prozentranges eines Kindes im Vergleich zu seinen Altersgenossen.
Wohlgemerkt liefert die MRA nicht den Endbefund einer Lese-Rechtschreibschwäche, aber doch eine sehr profunde Grundlage für die konkreten Förderbedarfe.

Sie sprechen von 100 Kindern, die bei den LeseAdlern und SchreibFüchsen mitmachen. Das klingt nach einer verhältnismäßig großen Zahl.

Weil LRS alltäglicher ist als viele denken. Zwischen vier und zwölf Prozent eines Jahrgangs sind davon betroffen. Allein in Deutschland sprechen wir also von 3,5 Millionen Menschen. Eben deshalb ist auch die Entstigmatisierung unserer zentralen Anliegen – neben der individuellen Förderung, die zentraler Baustein der „Adler und Füchse“ ist.

Wie können wir uns denn so einen Förderunterricht vorstellen? Nehmen Sie uns doch mal mit.

Zunächst einmal sprechen wir von Kleingruppen von höchstens fünf, eher vier Kindern. Dadurch entsteht eine sehr vertrauliche Atmosphäre. Angeleitet werden die Schülerinnen und Schüler von einem Studierenden der Ruhr-Universität, wobei eine Unterrichtseinheit zwischen 45 und 90 Minuten dauert. In dieser Zeit lernen die Schulkinder über speziell entwickelte Lernmaterialien – schriftlich, aber auch mündlich. Eine Methode ist zum Beispiel das sogenannte Lautlese-Tandem...

... was bedeutet ...

... dass es zunächst ein gemeinsames Lautlesen gibt. Dabei stellt sich heraus, dass es bei dem einen etwas flüssiger, bei der anderen vielleicht etwas stockender läuft. Danach bilden beide ein Tandem, das sich gegenseitig beim Lautlesen unterstützt. Zusammen Ziele zu erreichen und sich zu bestärken, ist einer der Schüssel. Die Studierenden übernehmen dabei eine moderierende Rolle, sind Coach und Vertrauensperson in einem. Welch enges, ja inniges Betreuungsverhältnis dadurch entsteht, davon durfte ich schon mehrfach Zeugin sein.

Das heißt auch, dass den Studierenden eine große Verantwortung zuteilwird.

Absolut. Denn letztlich sind sie das Gesicht der LeseAdler und SchreibFüchse. Deshalb ist es so entscheidend, dass sie gut instruiert werden. Das läuft über spezielle Seminare an der Ruhr-Universität, an denen Germanistik-Studierende aus jedem Semester teilnehmen können. In vier Blockveranstaltungen werden ihnen die grundlegenden LRS-Themen intensiv vermittelt. Das reicht von der Diagnostik über die Didaktik und Methodik bis hin zu den psychologischen Aspekten. Natürlich stellt es auch einen gewissen Anreiz dar, dass die Studierenden für ihren Einsatz Credit Points erhalten. Wie sehr sie sich aber darüber hinaus mit dem Thema LRS identifizieren, zeigt, dass aktuell eine Dissertation zur Lese-Rechtschreibschwäche an der Ruhruniversität Bochum entsteht. Unsere gemeinsame Arbeit führt also zu weiteren Forschungsergebnissen.

Womit Sie auch auf den nachhaltigen Ansatz zu sprechen kommen.
Er macht die LeseAdler und SchreibFüchse in besonderem Maße aus. Der nachhaltige Ansatz spiegelt sich ja schon in unserem Konzept des Schultandems wider: Jeder Grundschule ist in der Regel eine benachbarte weiterführende Schule zugeordnet. Dadurch schaffen wir es, dass die Förderung von der 3. bis zur 6. Klasse läuft – also durchgängig über vier Jahre. Und je langfristiger die Förderung, umso größer die Erfolgschancen.

Gibt es einen Moment, der Sie in der Zusammenarbeit mit den Kindern besonders bewegt hat?

Da gibt es ganz viele. Was mich aber wirklich regelmäßig beeindruckt, ist, mit welcher Motivation die Kinder bei der Sache sind. Ich sehe hier keine jungen Menschen mit einer „Schwäche“, sondern im Gegenteil: Starke Kinder, die ihr Schicksal in die Hand nehmen und mit Eifer dabei sind. Mit jedem Lernfortschritt wächst ihr Selbstbewusstsein. Es ist schon etwas Besonderes, zu sehen, wie hier Persönlichkeiten heranwachsen. Wenn wir als Chancenwerk unseren Beitrag dazu leisten, erfüllt mich das mit Stolz.

Welche Pläne haben die LeseAdler und SchreibFüchse in den kommenden Jahren?

Zunächst einmal freut es mich, dass die Initiative in die nächste Förderphase geht. Ich weiß, mit welchem Herzblut die Kuratorinnen und Kuratoren der Haniel Stiftung dabei sind, die die LeseAdler und SchreibFüchse ins Leben gerufen haben. Darum wollen wir weiter gute Arbeit leisten.
In Zukunft möchten wir auf sieben Schultandems kommen. Das heißt, an 14 Schulen hier in Duisburg aktiv werden – womit wir mehrere hundert Kinder erreichen werden. Dadurch erzielt unser Engagement eine noch breitere, aber auch nachhaltigere Wirkung. Im Interesse der Kinder. 

Von Haniel Stiftung

Chancenwerk: Kooperationspartner der Haniel Stiftung

Chancenwerk e.V. ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Castrop-Rauxel. Sie setzt sich bundesweit für faire Bildungschancen ein. Als langjähriger Bildungs- und Collective Impact-Partner verantwortet Chancenwerk die Koordination und Kommunikation der LeseAdler und SchreibFüchse.

Über die LeseAdler und SchreibFüchse

Die LeseAdler und SchreibFüchse starteten im März 2021 als Pilotprojekt auf Initiative der Geschwister Horstmann Stiftung. Die Haniel Stiftung verantwortet die Implementierung und Verstetigung. Ziel ist die Förderung von Kindern mit LRS nach einem ganzheitlichen, wissenschaftsorientierten Ansatz. Dafür verbindet die Initiative die Kräfte der Ruhr-Universität Bochum, der beteiligten Grund- und weiterführenden Schulen (Schultandems) und von Chancenwerk als Bildungspartner. Bis 2025 soll die Initiative an 14 Schulen im Duisburger Stadtgebiet sein. Dafür wurden weitere Fördergelder bereitgestellt.