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Fiktives Gespräch

„Eigne Dir die Welt an!“

Sie ist Masterandin in St. Gallen, er war Universalgelehrter und Universitätsgründer: Lea Reich, 28 Jahre, und Wilhelm von Humboldt, der große Humanist und Schöpfer des Humboldtschen Bildungsideals, haben sich auch heute noch viel zu sagen. Ein fiktives Gespräch über den Sinn eines Studiums und über Werte.

Lea Reich: An meiner Uni in St. Gallen wird das Humboldtsche Bildungsideal gelebt. Jetzt, wo ich die Gelegenheit habe, Sie zu fragen: Wie sehen Sie selbst Ihr Ideal?

Wilhelm von Humboldt: Das habe ich in meinem Bericht an den König aus dem Jahre 1809 angelegentlich dargelegt. Für mich ist Bildung die Anregung aller Kräfte des Menschen. Erst, wer sich ein universelles Wissen über die Welt aneignet, kann sich wirklich entfalten und führt ein selbstbestimmtes Leben mit einer guten Gesinnung.1

Reich: Das ist auch die Idee meines Studiums an der Uni St. Gallen: ein breites Wissen zu erwerben. Mein Masterstudiengang „Management, Organisation und Kultur“ verbindet die wirtschaftliche mit der kulturellen Welt. Im Kontextstudium kommen noch fachfremde Inhalte dazu: Medien, Kulturen, Geschichte, Gesellschaft, Verantwortung, Kreativität, Recht, Technologien. So verstehe ich auch Ihren Grundgedanken von Bildung: verschiedene Perspektiven zuzulassen, um komplett andere Lösungen zu entwickeln. 

Humboldt: So sind Sie ausnehmend gut gerüstet. Denn allein gut in einem Fach zu sein, macht den Menschen einseitig. So erlangt er nie die Geschicklichkeit und Freiheit, die notwendig ist, um in seinem Beruf nicht bloß etwas mechanisch nachzuahmen, sondern selbst Erweiterungen und Verbesserungen vorzunehmen.2

Reich: Heute nennen wir sowas Innovation. Aber welche Voraussetzungen brauchen wir für diese „Erweiterungen und Verbesserungen?“

Humboldt: Freiheit ist die erste und unerlässliche Bedingung! Die Freiheit des Geistes und die Vereinigung Mehrerer zum gemeinsamen, freien Denken. Dadurch entsteht Mannigfaltigkeit und gesellschaftliche Entwicklung. Doch diese Mannigfaltigkeit geht mit der Einmischung des Staates verloren.3

Reich: Auch dank Ihnen sprechen wir heute von akademischer Freiheit. Der Staat mischt sich nicht in die Lehre an Unis ein. Manipulativ sind eher neue Medien, in denen sich Gleichgesinnte mit geschlossenen Weltbildern treffen. Oder die Verbreitung von Unwahrheiten, die man dann „alternative Fakten“ nennt. Ich bin davon überzeugt, dass nur Aufklärung hilft. Wieder so ein altmodischer Begriff aus Ihrer Zeit, der immer noch gültig ist. Die Wissenschaft klärt auf und warnt zum Beispiel: Wir sollen klimafreundlicher leben. Aber mich beschäftigt noch etwas anderes...

Humboldt: Was ist es, das Sie nachgerade umtreibt?

Reich: Wie führe ich ein verantwortliches Leben? Das ist mein Traum, meine Utopie. Kann ein alter Wert wie Tugend, den Sie oft erwähnen, dabei helfen?

Humboldt: Ganz gewiss und auf vielfache Weise. In meinem Brief an Charlotte Hildebrand Diede führte ich aus: Wer sich heiter zu erhalten sucht, der sorgt nicht bloß für sein Glück, sondern er übt wirklich eine Tugend. Denn die Heiterkeit gibt dem Gemüt Kraft, für andere mehr zu leisten.4 Und im Übrigen: Das Edle ist nur dann vorhanden, wenn das Gute um des Guten willen geschieht.

Reich: Der Gedanke gefällt mir: Etwas Gutes nicht aus Pflicht zu tun, sondern gut gelaunt für andere mehr leisten, sich um sie zu sorgen. Bisher habe ich mit Tugend eher alte Werte wie Tapferkeit, Mut und Stärke verbunden. Ich war auf einem humanistischen Gymnasium. Deshalb denke ich bei diesen Werten sofort an das Männerbild der Antike.

Humboldt: Sie meinen gewiss Virtus, Tapferkeit? 

Reich: Ja, genau. Es ist interessant, über Tugend heute nachzudenken. Ich glaube, der Wert muss wie alle anderen Werte auf die heutigen Verhältnisse übertragen werden. Wir leben nicht mehr im Patriarchat und es gibt andere Themen. Tugend ist für mich heute das richtige Handeln für mich und andere bezogen auf den Klimawandel, die Solidarität in der Coronakrise und die Gleichberechtigung der Frau. Das will ich für mich ein Stück weit mehr leben. 

Humboldt: Über das Verhältnis zwischen Weib und Mann habe ich in meiner Zeit oft debattiert. Ich vertrat immer die Ansicht, dass Frau und Mann gleichgestellt seien. Denn es ist nichts so fatal, als wenn sich der Mann so viel klüger und erfahrener hält als die Frau. Das Verhältnis kann da lange nicht so ein Genuss des ganzen Wesens sein.5

Reich: Von Gleichberechtigung reden auch heute noch viele. Die Frauenquote in Wirtschaft oder Politik ist so ein immer wiederkehrendes Thema. Aber haben Sie, Herr von Humboldt, Gleichberechtigung auch wirklich gelebt?

Humboldt: Gewiss. Als meine Frau Caroline nach Paris ging und mich mit den Kindern in Rom zurückließ, waren meine Freunde und die Familie gar verdrießlich. Ich hingegen schrieb an meine geliebte Frau: Sollte einer von uns nicht mehr in dem anderen, sondern in einem Dritten das finden, worin er seine ganze Seele versenken möchte, dann werden wir beide uns freuen, den anderen glücklich zu sehen.6

Reich: Das klingt ja schon fast nach offener Beziehung! Da sind Sie ja selbst unserer Zeit voraus – zumindest, wenn ich in einige Teile dieser Welt blicke. In manchen Regionen gibt es ein ganz anderes Rollenverständnis der Frau. Ehebruch zum Beispiel wird hart bestraft ...  

Humboldt: ... was zeigt, dass es auch in Ihrer Zeit immer noch darum geht, die Ausbildung der Menschheit als Ganzes zu vollenden und im Sinne der Toleranz jeden Einzelnen zum selbstständigen, reflektierenden Handeln zu ermächtigen. Denn indem sich der Mensch möglichst umfassend an der Welt abarbeitet, entfaltet er sich als Subjekt und wird schließlich zum Weltbürger: Er setzt sich mit den großen Menschheitsfragen auseinander und bemüht sich um Frieden, Gerechtigkeit, den Austausch der Kulturen, andere Geschlechterverhältnisse oder eine andere Beziehung zur Natur.7 

Reich: Für ein anderes Verhältnis zur Umwelt und Natur setzt sich auch gerade unsere Generation ein – mit der „Fridays For Future“-Bewegung. Junge Menschen demonstrieren für die Zukunft unseres Planeten. Das ist heute eine der großen Menschheitsfragen, wie Sie es nennen. Sie zu lösen und etwas zu unternehmen, liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen auf unserer Welt und damit auch in meiner. Grundsätzlich verstehe ich mich als Weltbürgerin. Dazu gehört für mich auch, die Welt zu erkunden, offen zu sein und andere Kulturen kennenzulernen. 

Humboldt: Das nenne ich Weltoffenheit! Und zugleich führt uns das zu der Frage, was dann Heimat ist. Denken Sie nicht auch: Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache? Sie bestimmt die Sehnsucht danach, und die Entfernung vom Heimischen geht immer durch die Sprache am schnellsten und leichtesten, wenn auch am leisesten von sich.8

Reich: Ausnahmsweise möchte ich Ihnen da widersprechen, Herr von Humboldt. Ich habe eine andere Erfahrung gemacht: Überall, wo ich bisher in der Welt war, habe ich mich zu Hause gefühlt. Und das nicht wegen einer Sprache, sondern wegen der Menschen, ihrer Offenheit und Herzlichkeit.

 

 

1 Um die Verständlichkeit zu erleichtern, haben wir uns die Freiheit genommen, die Gedanken Wilhelm von Humboldts in Orthographie und Wortwahl zu modernisieren. Das entsprechende Originalzitat finden Sie unter: Wilhelm v. Humboldt, „Rechenschaftsbericht an den König“, Dezember 1809; zit. n. Ellwein, 1985, S. 116.
2 siehe Fußnote 1
3 Quelle: Wilhelm von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, 1792
4 Quelle: Wilhelm von Humboldt, „Briefe an eine Freundin“ (gemeint ist Charlotte Hildebrand Diede), 1847
5 Quelle: „Wilhelm und Caroline Humboldt in ihren Briefen. Reife Seelen“, 1820-1835, Hrsg. v. Anna Sydow
6 siehe Fußnote 5
7 Quelle: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Sprachtheoretisches“, 1836
8 Quelle:  Wilhelm von Humboldt, „Briefe an eine Freundin“, 1827
Von Haniel Stiftung

Zu den Personen

Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) war ein deutscher Philosoph, Philologe und preußischer Staatsmann. Er war der Mitbegründer der nach ihm benannten Humboldt-Universität in Berlin. 

Lea Reich, 28 Jahre, ist Masterstudentin in Managementorganisation und Kultur an der Universität St. Gallen.