Haniel Stiftung
INTERVIEW

„Es geht darum, welche Welt wir der nächsten Generation hinterlassen.“

Das European Haniel Program (EHP) prägt künftige Führungskräfte, indem es Studierende europäischer Spitzenunis verbindet. Im Herbst wird es mit Mitteln der Peter Curtius-Stiftung um drei Jahre verlängert. Ein Gespräch mit Professor Timon Beyes von der Leuphana Universität und Postdoc Maximilian Schellmann von der Copenhagen Business School zu neuen Schwerpunkten, der europäischen Idee und warum die nächste Generation weiter ist als sie selbst.

 

Welche Bedeutung hat das European Haniel Programm für Sie und Ihre Universitäten?

 

Beyes: Eine sehr große. Meines Wissens gibt es nichts Vergleichbares in der europäischen Universitätslandschaft. Wo sonst haben Nachwuchskräfte die Chance, sich länderübergreifend und interdisziplinär auszutauschen, gemeinsam mit direktem Praxisbezug zu Zukunftsthemen der Wirtschaft und Gesellschaft zu forschen, zusammenzuarbeiten und sich zu vernetzen? Deshalb haben wir die Berlin Summer Academy ins reguläre Curriculum an der Leuphana wie auch an der Universität St.Gallen aufgenommen. Allein das zeigt den Stellenwert.

Schellmann: Du sprichst an, was das EHP ausmacht: Es macht die europäische Idee erlebbar, indem es junge Menschen zum gemeinsamen Vordenkenken zusammenbringt. Dafür bricht es auch den verhältnismäßig verschulten akademischen Alltag auf – wie bei uns an der Copenhagen Business School (CBS). Hier laufen die Fachrichtungen normalerweise getrennt. Plötzlich können sich Studierende der Philosophie genauso wie welche des Designs oder der Ökonomie bewerben. Die laufen sich normalerweise kaum über den Weg, fahren dann aber gemeinsam nach Berlin und begegnen dort wieder Studierenden spannender Fachrichtungen aus Paris oder Venedig. Dadurch entstehen nicht nur tolle Arbeiten, sondern auch Freundschaften. Und das ist fantastisch!

Beyes: Im Prinzip sind wir beide ja Kinder des European Haniel Program beziehungsweise des Vorläuferprogramms, der Haniel Seminars. Wir sind uns vor Jahren erstmals in St. Gallen begegnet. Ohne das EHP wäre das nicht möglich gewesen.

Schellmann: Stimmt, und jetzt winke ich aus Copenhagen zu und du aus Lüneburg.

 

Nun wird das EHP durch die Peter Curtius-Stiftung um weitere drei Jahre verlängert.

 

Beyes: Die Nachricht hat uns natürlich ungemein gefreut. Denn zum einen bedeutet das Planbarkeit und Konstanz. Zum anderen aber auch Erneuerung.

 

Was verändert sich durch das Engagement der Peter Curtius-Stiftung?

 

Beyes: Zum einen wird die Europäisierung des Programms vorangetrieben.

 

Sie sprechen die Bristol University Management School an...

 

Beyes: ... die als sechste Universität dazukommt. Das ist ein enorm wichtiges Signal nach dem Brexit, der ja gerade die Studierenden in England in einen gewissen Schockzustand versetzt hat, weil sie von EU-Fördergeldern und Austauschformaten weitestgehend ausgeschlossen wurden. Auch für EU-Studierende hat der Brexit neue Mauern aufgebaut. Plötzlich brauchen sie zum Beispiel Visa.
Indem nun Bristol dazukommt – übrigens maßgeblich auf Betreiben von Bristol selbst –, zeigt das European Haniel Program zumindest im Kleinen, dass der europäische Gedanke auch solche Hürden überwindet.

 

Und die zweite Veränderung?

 

Beyes: Die Peter Curtius-Stiftung legt genauso wie die Haniel Stiftung großen Wert auf die Enkelfähigkeit unternehmerischen Handelns. Das bedeutet, dass das Programm in den nächsten Jahren verstärkt den Fokus auf den Themenkomplex Nachhaltigkeit/Umwelt im Zusammenhang mit Entrepreneurship setzen wird. Das werden sicherlich die Schwerpunkte auf den nächsten Summer Academies sein, zum Beispiel Themen der Resilienz und des Caring, also der Sorge für und um Andere.

Schellmann: Ich möchte noch etwas ergänzen, das die Peter Curtius-Stiftung weiter gewährleistet und ein Alleinstellungsmerkmal des European Haniel Program betrifft. Nämlich dass keiner der Studierenden irgendetwas für die Teilnahme am Programm bezahlen muss. Das unterscheidet es wesentlich von ähnlichen Formaten etwa in den USA. Das hat auch etwas mit Chancengerechtigkeit zu tun – und ist ein europäischer Wert an und für sich.

 

Sie haben die Berlin Summer Academy angesprochen. Nehmen Sie uns doch mal in die Woche dort mit. Was erwartet die Studierenden?

 

Schellmann: Wie erwähnt muss sich jeder und jede pro Universität bewerben, um daran teilnehmen zu können. Das tut man unter anderem dadurch, indem man begründet, warum einen das gestellte Thema persönlich und fachlich bewegt, welche Relevanz es für Europa hat, was man sich vom Austausch verspricht und gegebenenfalls selbst unternehmen würde, um das Thema voranzutreiben.

 

Auf der Summer Academy Ende Mai wird es das Thema „Migration und Unternehmertum“ sein ...

 

Schellmann: Timon und ich sind mitten in der Vorbereitung. Tag 1 beginnt mit einem Briefing zum Thema – mit der Vermittlung des generellen theoretischen Hintergrunds und der Beschreibung des allgemeinen Ablaufs. Daraufhin werden gemischte Fünfer-, mit Bristol demnächst Sechsergruppen aus den verschiedenen Universitäten gebildet. Anschließend geht es für die Gruppen zwei Tage in die Feldforschung.

 

Was ist unter „Feldforschung“ zu verstehen?

 

Schellmann: Wir haben konkrete Initiativen und Orte ausgewählt, die repräsentativ oder auch wegen ihres Innovationsgrades für das Themengebiet „Migration und Unternehmertum“ stehen. Das Spektrum reicht vom global verflochtenen Handelsunternehmertum bis zu lokalen gastronomischen Gründungen, von migrantischen Netzwerken über Nachbarschaftsinitiativen bis hin zu Expat-Communities. Solche Locations besuchen dann unsere Gruppen.

Beyes: Dabei haben sie die Chance, direkt mit den maßgeblichen Personen zu sprechen – ob zu deren Geschäftsmodell oder Hürden bei der Gründung wie etwa dem Umgang mit einer Bürokratie, die es vielen migrantisch geprägten Unternehmerinnen und Unternehmern nicht gerade leicht macht. Diese direkten Gespräche und Beobachtungen sind etwas, was die Studierenden aus dem täglichen akademischen Betrieb gar nicht kennen. Das beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit Formen des Unternehmertums, die oft nicht zur Kenntnis genommen werden. Die aber für die Zukunft von Städten und Nachbarschaften enorm wichtig sind.

Schellmann: Und das im Herzen Europas, nämlich in Berlin, wo sich ja nicht nur Start-ups, sondern vielfältige unternehmerische Aktivitäten sammeln und bedingen. Das hautnah mitzubekommen ist schon eine einzigartige Erfahrung für die Studierenden. Mit den gewonnenen Eindrücken kommen die Gruppen dann zurück und werten ihr Wissen über zwei weitere Tage aus, analysieren und diskutieren miteinander. Dabei geschieht hautnah das, was Europa im Kern ausmacht: Kreativität und Engagement über Grenzen hinweg.

 

Zu welchen Ergebnissen führen die Studien?

 

Schellmann: Am letzten Tag kommt es zur Präsentation der Gruppenergebnisse. Aber nicht im Rahmen einer langatmigen Frontalpräsentation, sondern im Zuge einer interaktiven Exhibition. Das heißt: Mitglieder der einzelnen Gruppen präsentieren den anderen in einer Art Galerie ihre Vorgehensweise und Erkenntnisse. Das ist dann sozusagen die gruppenübergreifende Reunion. Den Ergebnissen kann ich jetzt nicht vorgreifen. Aber sicher wird es um Fragestellungen gehen wie: Welche Innovationskraft steckt in Migration und Zuwanderung für ein erfolgreiches Europa im globalen Wettbewerb?

Beyes: Um dich hier zu ergänzen, Max: Die Erkenntnisse ragen umgekehrt wieder in den regulären universitären Betrieb hinein. Wir werten die gemeinsame Arbeit aus und schauen nach dem Prinzip „Train-the-Trainer“ im Rahmen der Organisationsforschung danach, wie wir die Wissensvermittlung gegenüber Studierenden weiter verbessern können – gerade auch im Sinne innovativer Formate. Das wird mit großer Neugier von den Kolleginnen und Kollegen aufgenommen. Dazu machen wir im Kontext des Programms eigene Forschungsarbeiten, wie etwa den voluminösen „Routledge Companion for Reinventing Management Education“, der ohne das EHP nicht entstanden wäre.

 

Sie erwähnen das Train-the-Trainer-Prinzip. Hier setzen auch die PhD-Workshops an, die ebenfalls zum European Haniel Program gehören.

 

Beyes: Das stimmt. Während sich die Summer Academy an Masterstudierende richtet, ergänzen die PhD-Workshops das Format für Promovierende. Zuletzt fand es in Paris statt. Aber da kannst du mehr erzählen, Max. Daran konnte ich aufgrund von Corona nicht teilnehmen.

Schellmann: Das Thema hieß „Rethinking Management Educations – Theories, Practices & Interventions in the Anthropocene“. Wir widmeten uns der Fragestellung, was es bedeutet, Management und Unternehmertum unter den Bedingungen eines unumkehrbaren Klimawandels durch menschliche Aktivität zu unterrichten – mit all den großen Auswirkungen unseres Handelns auf Gesellschaft und Ökosysteme und der Verantwortung, die das für uns bedeutet. Im kommenden Herbst knüpfen wir in Venedig direkt daran an, wo es um „Academic Engagement and the Politcs of Scholarship“ gehen wird.

 

Zu welchen Erkenntnissen führen die PhD-Workshops?

 

Schellmann: Nehmen wir das Beispiel des Pariser Workshops zum Thema Management im Anthropozän. Ein innovativer, weil komplett anderer Ansatz war, die Ergebnisse als Manifeste zu präsentieren, indem man eben nicht die Perspektive des Menschen einnahm. Plötzlich erhielt zum Beispiel die Natur eine Stimme – was eine ganz andere Form der Reflexion und Eindringlichkeit mit sich brachte. Das hinterließ eine tiefe Wirkung bei allen Beteiligten, die die Forschung allein schon emotional beflügeln wird.

 

Jenseits solcher Plädoyers: Was ist das eigentlich – europäisches Unternehmertum? Welche spezifische Note bringt Europa ein, um im weltweiten Wettbewerb zu bestehen?

 

Beyes: Ich denke, das ist etwas, das sowohl die Stiftungen als auch unsere Universitäten zusammenschweißen sollte. Nennen Sie es Enkelfähigkeit oder die Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns – ein Verantwortungsgefühl für die Welt um uns herum und was mit ihr passiert. Was ja mehr als ein Gefühl ist, sondern im Handeln münden muss. Genau deswegen gehen wir mit den Studierenden zu konkreten Initiativen und Orten, an denen etwas unternommen wird.

Auch auf die Gefahr hin, als Vater einer Tochter allzu pathetisch zu wirken. Aber es geht doch darum, welche Welt wir der nächsten Generation hinterlassen wollen. Das hat mit dem Umgang mit unserer Umwelt, aber auch mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften zu tun.

Mit Blick auf die aktuellen Studierenden fällt mir auf, dass meine Generation hedonistischer geprägt war. Da ist die nächste Generation in meinen Augen weiter als wir noch in jungen Jahren. Studierenden aus Venedig muss man nicht sagen, welche Auswirkungen menschliches Handeln auf den Klimawandel hat. Sie erleben ihn ja direkt vor der Haustür.

Schellmann: Und eben daraus entsteht Neues. Europa kann im Kern ja nicht China oder die USA verändern, aber in vielerlei Hinsicht Motor und Vorbild für einen ganzheitlicheren, verantwortungsbewussteren Ansatz sein. Das mag der kompliziertere, weil komplexere Weg sein, in dem zugleich aber enorme Innovationskraft steckt.

Dafür wiederum braucht man künftige Leaderinnen und Typen, die Europa mit Herz, Verstand und Kreativität in die Zukunft denken.

Das European Haniel Program inspiriert solche Menschen in einer entscheidenden Phase ihres Lebens.

Von Haniel Stiftung

Das European Haniel Program und die Peter Curtius-Stiftung

Unter dem Dach des EHP sind mit der Universität St.Gallen, der Copenhagen Business School, der Leuphana Universität Lüneburg,  der Università Ca‘ Foscari Venezia und der Université Paris-Dauphine fünf europäische Spitzenuniversitäten der Wirtschaft miteinander vernetzt. Die Bristol University Management School wird ab Herbst 2023 als sechste Universität dazukommen.

Die Peter Curtius-Stiftung sichert die Finanzierung des EHP bis 2026. Sie fördert die Forschung und Ausbildung auf dem Gebiet der europäischen Unternehmensführung, ermöglicht Skalierung und die Fokussierung auf nachhaltiges Unternehmertum.

Zur Person: Maximilian Schellmann & Timon Beyes

Prof. Dr. Timon Beyes ist Professor für Soziologie der Organisation und der Kultur an der Leuphana Universität Lüneburg.

Dr. Maximilian Schellmann ist Postdoc am Department of Business Humanities and Law an der Copenhagen Business School.