Chancenwerk

Sprachförderung in Siebenmeilenstiefeln.

Im Februar 2022 bricht der Ukraine-Konflikt aus. Hunderte Familien landen in Duisburg. Darunter viele, teils traumatisierte Kinder. In wenigen Monaten wird für sie ein Sprachunterricht auf die Beine gestellt – in einer improvisierten Zeltstadt. Dass es so schnell ging, ist der engen Zusammenarbeit zwischen drei Akteuren zu verdanken. Man kennt und vertraut sich. Sonst wäre es wohl auch nicht gegangen. Dokumentation einer Hilfeleistung in Siebenmeilenstiefeln. Unter dramatischen Umständen.

Die ersten Geflüchteten erreichen Duisburg. Eine Zeltstadt wird gebaut.

Ende Februar 2022. Der Ukrainekonflikt erreicht Duisburg. Täglich treffen Dutzende flüchtender Familien mit Kindern in der Ruhrmetropole ein. Doch wie sie unterbringen? Wohnraum fehlt. Und die Zeit drängt.

Die Stadt reagiert schnell: Ein Krisenstab wird gebildet und eine provisorische Zeltstadt auf dem ehemaligen Delta-Gelände in Duisburg-Hamborn errichtet. Dafür arbeiten Behörden über Ressortgrenzen hinweg eng zusammen. Das Schicksal der Geflüchteten setzt Solidarität und unbürokratisches Handeln frei.

Integration durch Sprachunterricht. Doch Platz und Mittel fehlen.

Auch Schewa van Uden lassen die Bilder der ankommenden Familien nicht los. Sie ist Teamleiterin für Migration und Integration im Kommunalen Integrationszentrum (KI). Dort ist sie unter anderem verantwortlich für Bildungsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Doch die Stadt steht vor einem Dilemma: Die Kinder an Schulen zu verteilen, ist ad hoc nicht möglich. Dafür gibt es nicht ausreichend Plätze. Andererseits weiß Schewa van Uden, dass Sprachunterricht der erste Schritt zur Integration ist. Doch wo und wie kann er durchgeführt werden? Unabhängig davon sind die Mittel knapp. Doch Schewa van Uden ist eine Macherin. „Es gibt keine Probleme, nur Lösungen“, lautet ihr Motto. Sie wählt eine Telefonnummer.

Fördergelder werden freigemacht. Die Gesellschafterfamilie spendet spontan.

Am anderen Ende der Leitung ist Dr. Rupert Antes von der Haniel Stiftung. Zuvor hat er bereits Unterstützung signalisiert. Jetzt kommt Schewa van Uden darauf zurück. Beide kennen sich seit Jahren. Gemeinsam haben sie viele Bildungsprojekte in und für Duisburg gestemmt. Nach Schilderung der dramatischen Situation steht es für Antes außer Frage zu helfen. Später wird ein Förderbetrag von 140.000 Euro für die Sprach- und Integrationsmaßnahmen zustandekommen – auch weil die Haniel Gesellschafterfamilie in spontaner Spendenbereitschaft vorhandene Budgets großzügig weiter aufstockte.  

Doch noch ist es nicht so weit. Zuallererst braucht es einen Plan. Kurzfristig. Und jemanden, der fähig ist, ihn aufzustellen und durchzuführen. Jemanden, dem sowohl die Stiftung als auch die Stadt vertraut ist. Nun zückt Rupert Antes sein Handy.

Chancenwerk sagt zu. Und betritt Neuland.

Die Nummer, die auf dem Display erscheint, ist Songül Kavut gut bekannt. Sie ist Mitglied der Geschäftsleitung bei Chancenwerk. Die gemeinnützige Organisation hat für die Stiftung bereits etliche Bildungsinitiativen auf die Beine gestellt. Auch Schewa van Uden kennt sie bereits von gemeinsamen Projekten. Mit Rupert Antes ist sie per Du, was schon in der Vergangenheit viele Dinge beschleunigt hat. Und genau jetzt ist schnelles Handeln gefragt.

Songül Kavut hört sich das Ansinnen der Stiftung an: die Not der ukrainischen Kinder, die spezielle Situation der Stadt. Sie sagt ihre Hilfe zu. Ja, sie wird den Plan aufstellen. Sie wird dafür sorgen, dass der Unterricht schnellstmöglich stattfindet, und sie wird die Koordination und das Management übernehmen.

Das sagt sie mit großem Respekt vor der Aufgabe. Denn Sprachförderung für Kinder ohne jede Deutschkenntnisse und in dieser Kürze der Zeit – das ist selbst für das bildungs- und integrationserfahrene Chancenwerk Neuland.

Es war keine Frage, sofort zu helfen. Auch wenn wir großen Respekt vor der Aufgabe hatten.

Songül Kavut, Mitglied der Geschäftsleitung bei Chancenwerk e.V.

Planung im schnellen Sprint: ein Zusammenspiel der Kräfte.

Was nun geschieht, passiert im Eiltempo. Chancenwerk erstellt eine Bedarfsanalyse: Was brauchen die Kinder, was muss die Kommune leisten? Eine zentrale Voraussetzung wurde definiert: Der Unterricht muss in einem der Zelte stattfinden – und damit in direkter Nähe zu den Familien. Somit wäre die Ortsfrage geklärt. Wichtig: Dieses Zelt muss allein dem Unterricht zur Verfügung stehen. Technische Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Ein Whiteboard als interaktive Tafel wird benötigt, Unterrichtsmaterialien müssen beschafft werden – Deutschbücher, Hefte, Stifte. Dazu Internetzugang und natürlich Tische und Stühle.

Schewa van Uden übernimmt die Mittlerrolle und macht Druck. Nötige Genehmigungen forcieren, mit anderen Behörden kommunizieren. Auch die Standortleitung muss laufend über die nächsten Schritte informiert werden: Wie und wann muss das Schulzelt bereitgestellt werden? Die Drähte laufen heiß. Doch nach und nach nimmt der Unterricht Gestalt an.

Studierende werden gecoacht. Auch im Umgang mit Traumata.

Parallel geht Chancenwerk in die Gewinnung von Studierenden aus der Region – insbesondere des Fachs Germanistik. Auch hier ist die Hilfsbereitschaft groß. Binnen Kürze erklärt sich ein halbes Dutzend junger Lehrkräfte bereit, sich für die gute Sache zu engagieren. Neben der pädagogischen Kompetenzvermittlung wird für sie ein Training speziell im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen aufgesetzt. Mittlerweile steht im Großen und Ganzen auch der Lehrplan. Das Feld ist bereitet.

Die erste Stunde. Und bewegende Worte.

In den Sommerferien 2022 ist es soweit: die erste Unterrichtsstunde! Etwa 30 ukrainische Kinder im Grundschulalter finden sich ein – neugierig, aber auch sprachlos im wörtlichen Sinne. Deutsch zu lernen ohne Deutsch zu sprechen in einem für sie fremden Land: Für sie ist das nicht leicht. Aber ein Schritt, der ihnen Hoffnung auf die Zukunft gibt.

Thema in einer der 90-Minuten-Einheiten: die Anatomie des Menschen. „Das ist die Hand. Das ist der Fuß“. Vieles in der Sprachübermittlung geschieht tatsächlich mit Händen und Füßen.

Von den Eltern kommt bewegende Resonanz: Der Dank drückt sich in vielen Umarmungen und unzähligen Textnachrichten aus. Dass die Nachrichten verstanden wurden, ist einer russischsprachigen Mitarbeiterin bei Chancenwerk zu verdanken. Bis heute ist sie für die Geflüchteten eine wichtige Ansprechpartnerin: ein Glück in der Not. Andererseits: Wenn zum gegenseitigen Vertrauen Glück dazukommt, dann verkürzt das wirklich Wege.

Der Aufbau des Sprachprogramms von der Ankunft der ersten Flüchtlinge bis zur ersten Unterrichtsstunde hat nur vier Monate gedauert. Ein Prozess, der sich normalerweise über Jahre erstreckt hätte.

Die Haniel Stiftung hat uns nicht nur mit ihren Mitteln unterstützt, sondern auch mit ihrer Empathie.

Schewa van Uden, Teamleiterin für den Bereich Integration und Migration, Kommunales Integrationszentrum (KI)

Epilog

Ende 2022 schloss die provisorische Zeltstadt. Die Familien und Kinder konnten in andere Unterkünfte verteilt werden. Das Programm läuft weiter. Es ist auf zwei Jahre angelegt und wird von den Kindern und Jugendlichen nach wie vor gern angenommen. Nicht nur, weil es Sprachförderung bedeutet: ein wichtiger Schritt, um in Duisburg besser an- und zurechtzukommen. Sondern auch Begegnung: Es bietet den Kindern die Chance, sich regelmäßig auszutauschen – ob zu Neuigkeiten aus der Heimat oder zu Erfahrungen in Deutschland. Mit den Fördergeldern der Haniel Stiftung wurde es um ein Frauencafé erweitert.

Heute finden die Sprachkurse in der Zentralbibliothek und in ausgewählten Stadtteilbibliotheken statt. Ein weiteres Beispiel spontaner Hilfsbereitschaft, die auch Schewa van Uden begeistert: „So viele in der Duisburger Stadt- und Zivilgesellschaft haben in Solidarität für die ukrainischen Familien und Kinder zusammengehalten und zusammengearbeitet. Das sind Momente, die man nicht vergisst. Auch die Art, wie uns die Haniel Stiftung unterstützt hat. Nicht nur mit ihren Mitteln, sondern einfach auch mit ihrer Empathie.“

Die Haniel Stiftung wird weiter zu ihrer Verantwortung stehen.

 

 

 

 

Von Haniel Stiftung